Beiträge/Archiv
An dieser Stelle wollen wir eine Auswahl an Beiträgen aus vergangenen Schreib-Wettbewerben dokumentieren. Sie können als Anregung für neue Ideen gelesen werden. Sie sollen aber auch bisherige Beiträge würdigen und einem breiten Publikum zugänglich machen.
Bei der Auswahl greifen wir auf die Buchveröffentlichung zu den Wettbewerben zurück.
Da es nur noch wenige Druckexemplare der Bücher gibt, bieten wir hier auch die Bücher als pdf-Datei zum DOWNLOAD an:
- SPUREN - Buch zum Schreibwettbewerb 2019 DOWNLOAD-LINK
- SPUREN - Buch zum Schreibwettbewerb 2022 DOWNLOAD-LINK
- SPUREN - Buch zum Schreibwettbewerb 2024
Das Buch zum aktuellen Wettbewerb ist gerade erschienen. Sie erhalten es in der Synagoge. Sie können es auch per email bestellen. Bestellung per email didaktik@stadthagen-synagoge.de // Wir erbitten für das Buch eine Spende und ggf. Versandkosten (5,00 € plus 2,50 € wäre wünschenswert).
Viel Spaß beim Lesen und Stöbern!
Preisträger:in 2024
KLARHEIT
Marvin Merk
IGS Schaumburg, JG 12
Buch S. 25 / Gedicht // Arbeitsblatt: -
KLARHEIT
Noch nie war meinem Verstand es so bewusst,
Wie die SS-Soldaten den Leuten beraubten die Lebenslust.
Die ganzen Qualen der Opfer – kaum vorstellbar,
In den KZ ihr Leben: ständig in Gefahr.
In den dunklen Nächten macht der Kopf noch Radau.
Die Kindheit genommen den kleinen Nachkommen,
Sowohl im Stammlager als auch in Birkenau.
Tage lang nach der Führung noch in Gedanken geschwommen.
Doch jetzt habe ich es endlich verstanden,
Niemals vergessen die Ereignisse, die stattfanden.
Niemals mehr kleine Späße über diese höllische Zeit,
Nur noch Mitgefühl hab ich für die Opfer bereit.
Es darf nicht vergessen werden, was alles geschah.
Irgendwann ist es auch weg, das ganze abgeschnittene Haar.
Deshalb müssen wir an die Opfer gedenken
Und ihnen damit im Geiste ein weiteres Leben schenken.
Preisträger:in 2024
Jara Dietrichkeit
Gymnasium Bad Nenndorf, JG 9
Buch S. 45ff / Comic // Arbeitsblatt: -
PAUL JOST
(*4.5.1892 - †28.4.1945)
Das Alte Brauhaus Rodenberg, gebaut 1511, wiederaufgebaut 1859. 1943 wohnte hier, seit der Heirat mit seiner Frau 1922, Paul Jost mit seiner Ehefrau Dorothea Jost, seiner 10-jährigen Tochter Margarete, seinem 20-jährigen Sohn Albert, der zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre bei der Kriegsmarine war und seinem Stiefsohn Wilhelm, der zu diesem Zeitpunkt an der Ostfront (Russland) war.
Paul Jost wurde am 4.5.1892 in Witten an der Ruhr geboren, er arbeitete seit seiner Schulentlassung in verschiedenen Fabriken und von 1918 an ununterbrochen als Werkshelfer (Dreher) beim Reichsbahnausbesserungswerk Leinhausen für einen Monatslohn von circa 200 RM (Reichsmark) (ca. 50€). Im zweiten Weltkrieg musste er nur wenige Tage als Soldat dienen und war ansonsten als Rüstungsarbeiter reklamiert.
Von 1931 bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 war Jost überzeugter Sozialdemokrat, Mitglied in der SPD und als solcher auch Ratsmitglied, er war auch im Arbeiter-Turn- und Sportbund. Außerdem sang er gerne, im „Arbeiter Gesangverein“ übernahm er als Tenor viele Soli und war Liedervater. Zudem war er sehr sportlich und so auch im Sportverein aktiv. Auch künstlerisch betätigte Paul Jost sich gerne, er zeichnete Portraits von Politikern und Bekannten, aber auch politische Karikaturen. Außerdem schrieb er unentgeltlich für die lokale Zeitung.
So muss er sich ab 1943 regelmäßig bei dem Gestapoamt Rodenberg (Gestapo = Geheime Staatpolizei) melden, da er verdächtigt wurde, in den Reichsbahnzügen regimefeindliche Blätter ausgelegt zu haben und Zwangsarbeitern Essen, das er unter anderem von anderen Roden-bergern bekam, zugesteckt zu haben. Der Verdacht ist von Brigitte von Jami-net bestätigt worden, sie erzählt, dass er nicht nur Essen, welches er unter anderem von anderen Rodenbergern bekam, sondern auch auch andere Güter wie Zigaretten an Zwangsarbeiter abgab. Die Flugblätter habe er mit einem seiner ebenfalls sozialdemokratisch motivierten Brüder ausgelegt, beide waren auch in der SPD Hannover tätig.
Am 28. Juni 1943 wurde Paul Jost an seinem Arbeitsort in Leinhausen, in Folge der Denunziation durch einen anderen Rodenberger, verhaftet. Seine Familie wurde nicht über die Verhaftung informiert und wartete Zuhause auf ihn. Erst durch Nachforschungen erfuhren sie von der Verhaftung. „Der Vorwurf lautete: »Verbrechen gegen die Rundfunkverordnung«. In einem Prozess vor dem Sondergericht Hannover am 28. Juli 1943 wurde ihm vorgeworfen, ab November 1941 »Feindsender« abgehört zu haben.“ (Rechercheergebnisse ehemalige Synagoge Stadthagen)
Er wurde zu zwei Jahren Zuchthaus (eine Art Gefängnis) und Ehrverlust (Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“) verurteilt. Am 25. August 1943 wurde er, nach einem Aufenthalt in der Haftstation Ahlem, in das Zuchthaus Hameln eingeliefert.
Nachdem Dorothea Jost, die bisher ihren Lebensunterhalt mit dem Austragen von Zeitungen verdient hatte, Anfang Dezember an einer beidseitigen Lungenentzündung erkrankte und aufgrund der Folgen dieser Erkrankung keine körperliche Arbeit mehr verrichten konnte, hatte sie kein Einkommen mehr und war auf die finanzielle Hilfe ihres gemeinsamen Sohns Albert angewiesen, der zu diesem Zeitpunkt bei der Kriegsmarine war. Als dieser allerdings am 13.1.1944 bei einem Unfall in Oslo starb, verfügte sie über keinerlei finanzielle Mittel mehr. Weder die gemeinsame Tochter konnte ihr helfen, da sie noch zu jung war, noch Dorotheas Sohn Wilhelm, da dessen Frau krank war und er an der Ostfront (Russland) stand. Deshalb schrieb Dorothea Jost am 25.2.1944 ein handschriftliches Gnadengesuch an das Amtsgericht Hannover, dieses wurde jedoch sowohl vom Direktor des Zuchthauses Hameln (14.3.1944), als auch vom Oberstaatsanwalt Hannover (31.5.1944) abgelehnt bzw. nicht unterstützt.
Am 28. April 1945 um 14 Uhr, drei Wochen nach der Übernahme des Zuchthauses durch amerikanisches Militärs, verstarb Paul Jost im Zuchthaus Hameln (Münsterwall 2), laut Todesschein ist die Todesursache „Durchfall und Herzschwäche“. Diese Formulierung findet sich in dieser oder abgewandelter Form auf dutzenden Todesscheinen. Paul Josts Tochter war überzeugt davon, dass er durch herzschwächende Mittel verstarb, was sie von Freunden Paul Josts erfahren hatte, die mit Mithäftlingen gesprochen hatten. Dieser Verdacht konnte aber nie belegt werden, da in den Papieren des Zuchthauses nichts darüber zu finden war. Der Durchfall wurde wohlmöglich durch Typhus ausgelöst (meist durch Verunreinigung der aufgenommenen Lebensmittel oder des aufgenommenen Trinkwassers verursacht), der in dieser Zeit dort kursierte. „Ursache des massenhaften Sterbens in den späten Kriegsjahren waren die unsäglichen Zustände im Zuchthaus, die durch Überarbeitung, Überbelegung und Vernachlässigung bedingt sind. Monatelanger Hunger, fehlende Heizung und die katastrophale medizinische Versorgung forderten viele Menschenleben.
Im Zuchthaus Hameln waren vor allem politische Häftlinge, größtenteils Sozialdemokraten und Kommunisten inhaftiert.“ (Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit und Nachkriegszeit, von Bernhard Gelderblom) Die Angehörigen wurden über seinen Tod nicht informiert. Freunden der Familie, die ihn am 30. April 1945 aus der Haftanstalt abholen wollten, überbrachten der Familie die Todesnachricht. Bei der Abholung wurde den Freunden der Zugang zuerst wegen der vermehrten Erkrankungen an Typhus verwehrt. Erst auf weiteres Drängen wurde ihnen die Auskunft gegeben, dass Paul Jost vor zwei Tagen bereits verstorben sei. Da die Freunde unbedingt darauf bestanden, durften sie seinen Leichnam noch einmal sehen, laut ihren Erzählungen war Paul Josts Leichnam sehr stark abgemagert. Doch laut Berichten der Mithäftlinge, war sein Zustand noch vor zwei Monaten den Umständen entsprechend relativ gut.
Paul Jost wurde vorläufig im April oder Mai 1945 auf dem Gelände des Zuchthauses bestattet und gegen Ende Mai ohne Sarg in ein doppelt belegtes Grab auf dem Friedhof Wehl auf das Feld C 1/50d umgebettet. Die Angehörigen durften nicht zur Beerdigung kommen und das Grab laut Josts Tochter auch erst ab Juni 1945 besuchen. Die Umbettung nach Rodenberg wurde abgelehnt. Nach der gesetzlichen Liegefrist von 30 Jahren wurde 1976, ungeachtet des dauernden Ruherechts für Opfer des Kriegs und der Gewaltherrschaft, das Gräberfeld C 1 (300 Gräber) inklusive Paul Josts Grab eingeebnet. 2005 wurde für das Gräberfeld C 1 eine Gedenk - und Informationstafel errichtet. Und 2013/2014 wurde die gesamte Fläche neu gestaltet. Am 5.12.2012 um 9 Uhr wurde zum Gedenken an Paul Jost an seiner ehemaligen Wohnung in der Echternstraße 19 ein Stolperstein durch den Künstler Gunter Demnig verlegt.

Preisträger:in 2024
FILM
DIE RÜCKKEHR VON ERWIN RAUTENBERG
Von Irem Baktas und Dana Bode
Ratsgymnasium Stadthagen, JG 12
Buch S. 73 / Film: LINK zum Film // Arbeitsblatt: -

DAS BLUT DER WEISSEN ROSE
Sophia Bennett, Frieda Stahlhut
Ratsgymnasium Stadthagen, JG 8
Buch S. 36 / Prosa // Arbeitsblatt: -
DAS BLUT DER WEISSEN ROSE
Es war ein bitterkalter Tag im Februar 1943, Schnee bedeckte die Straßen Münchens wie ein unschuldiger Schleier. Die Luft war klar, fast schneidend, und jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er meine Lungen durchbohren. Wir stapften durch den Schnee, hörten ihn unter unseren schweren Stiefeln knirschen. Mein Blick fiel auf die Uniform meines Nebenmannes, welche von jenem Orden geschmückt wurde, der ihn vor drei Wochen zum Offizier gekürt hatte. Er atmete flach, schien angespannt, fast so, als würden unsichtbare Fäden an ihm zerren.
Die Zeiten waren hart, Zweifel waren keine Option. Und doch spürte ich, wie sie mit jedem Schritt stärker an meinem Gewissen zogen. Wir durchquerten den Hof der Universität, als wir sie sahen. Eine junge Frau, dessen Wangen von der Kälte rosig gefärbt waren. Ihre Augen blühten vor Leben, während sie auf den Stufen des Hauptgebäudes stand und Flugblätter verteilte. Ungeduldig flatterten sie im Wind, bevor eine warme Hand sich ihrer annahm. Zunächst hielt ich sie für eine dieser naiven Studentinnen, die kaum ahnten, was um sie herum vor sich ging. Doch der Blick meines Nebenmannes verhärtete sich. „Diese verräterische Schlampe!“, murmelte er, und bevor ich wusste, was geschah, stürzte er sich auf sie.
„Was soll das hier?“ schrie er sie an, während er ihren Arm packte. Ihre unschuldigen Augen weiteten sich. Sie wirkte erschreckend jung, ihr Gesicht, nun noch dunkler gerötet als zuvor, war nicht das einer Kriminellen. Sie war einfach nur ein Mädchen, kaum älter als meine eigene Schwester, die vor einigen Wochen 22 wurde. Die Flugblätter, die sie verteilt hatte, segelten durch die Luft und landeten im Schnee. Dort blieben sie liegen, als würden sie ertrinken, bis der Stiefel eines meiner Kameraden sie zertrat.
Unfähig dazu, mich zu rühren, stand ich da. Ein letztes Flugblatt fiel neben mir zu Boden, schien mich förmlich anzustarren. Ich sah Worte über Freiheit, Gerechtigkeit und Widerstand. Worte, die in mir eine lang unterdrückte Sehnsucht weckten. Es war eine Sehnsucht nach einer Welt, in der Menschen wie sie nicht gejagt wurden. An diese Jagd würde ich mich niemals gewöhnen, nie würde ich abstumpfen, vergessen, verdrängen. Jede Nacht sah ich ihr Gesicht vor mir, ihre großen, unschuldigen Augen. Anklagend. Es war genau der Blick, mit dem das Mädchen mich gerade musterte.
Die harschen Worte meines Kameraden holten mich zurück in die Realität, hart und unnachgiebig. „Mitkommen!“ Das Mädchen wehrte sich nicht, aber ihr Blick bohrte sich in mich, als wollte sie mir etwas sagen. In diesem Moment verspürte ich eine tiefe Scham. Ich war Teil eines Apparates, der Menschen wie sie zermalmte, und das alles für eine Ideologie, die ich nie wirklich verstanden hatte. Aber was blieb mir anderes übrig, als gehorsam zu folgen? Ich musste mit eigenen Augen ansehen, was denen passiert, die Widerstand leisten. War ich feige?
Während wir sie abführten, knirschte der Schnee ächzend und vorwurfsvoll unter unseren Springerstiefeln und ich konnte den Blick kaum von ihr abwenden. Erhobenen Hauptes ließ sie sich einfach abführen. Sie war so ruhig, so gefasst, als wüsste sie längst, dass ihr Schicksal besiegelt war. Doch in ihren Augen war nicht die leiseste Spur von Hass zu erkennen, stattdessen nur eine unerschütterliche Entschlossenheit, die mir Angst machte.
Als wir das Gefängnis erreichten, übergaben wir sie den Wärtern. Es fühlte sich an, als würden wir Vieh zum Schlachthof bringen. Ich wollte etwas sagen, etwas, das mich von meiner Schuld befreite, doch meine Lippen blieben stumm. Ich presste sie zusammen, wendete mich ab, bevor jemand sah, dass meine Augen vor Scham glühten.
In den folgenden Tagen erfuhr ich, wer sie war: eine der Weißen Rosen. Sie gehörte zu denjenigen, die den Mut besaßen, gegen das Regime aufzustehen. Ihre Taten wurden als Verrat betitelt, doch etwas in mir sträubte sich dagegen. Ein Gefühl, das wie der dreckige Schnee an meinen Stiefeln klebte. War es Verrat, sich gegen Unrecht zu stellen? Und wer war ich, dass ich dieses Unrecht verteidigte?
Der Tag ihrer Hinrichtung kam schneller als ich gedacht hatte. Ich stand in der Menge, unfähig, mich von dem Geschehen zu lösen. Sie ging mit erhobenem Haupt zum Schafott, und als die Klinge fiel, spürte ich, wie etwas in mir zerbrach.
Die Welt, in der ich gelebt hatte, war eine Lüge, und ich war ein Teil von ihr gewesen. Sophie Scholl war tot und mit ihr ein Teil meiner Menschlichkeit. Die Kälte, die ich an diesem Tag verspürte, sollte mich nie wieder loslassen. Ich war ein Soldat, eine Spielfigur eines mörderischen Regimes. Doch in Wahrheit war ich nichts weiter als ein Feigling, der zugesehen hatte, wie ein weiteres unschuldiges Leben ausgelöscht wurde.
Der Schnee, der an diesem Tag fiel, bedeckte alles – die Straßen, Häuser, ja, sogar die grässlichen blutroten Pfützen. Er bedeckte mein Herz. Doch die Schuld, die ich für immer in mir tragen würde, war das Einzige, das niemals begraben werden konnte.
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An dieser Stelle muss eine historische Richtigstellung erfolgen, die den Text stilistisch nicht schmälern soll, sondern nur historische Genauigkeit erzeugen möchte: Sophie Scholl verteilte die Flugblätter nicht öffentlich sichtbar, denn das war verboten und hätte sie verraten. Die Weiße Rose dachte, dass sie unbeobachtet sei und legte die Flugblätter ab bzw. warf sie über die Galerie in den Innenhof der Universität. Dieser Innenhof war überdacht, weshalb die Soldaten nicht durch Schnee liefen. In der Erzählung stellen Soldaten Sophie Scholl - 1943 wurden sie jedoch vom Hausmeister der Universität an die Gestapo verraten.
WARUM IST DAS SO
Philine Bornemann
IGS Helpsen, JG 10
Buch S. 84 / Gedicht // Arbeitsblatt: -
WARUM IST DAS SO
Warum ist das so?
Warum werden Menschen auf der Straße fertiggemacht?
diskriminiert, unterdrückt oder einfach nur ignoriert?
Warum ist die Welt so geworden?
Warum ist das so?
Und das nur, weil man anders denkt, anders aussieht oder eine andere Nationalität hat.
Was ist aus der Welt geworden, wieso ist das so, sind wir nicht alle die gleichen Menschen?
Und wollen einfach nur ein friedliches Leben?
Was ist das und warum ist das so, können wir nicht einfach jeden gleich
ansehen, jeden gleich würdigen und jeden einfach so leben lassen, wie man selbst
leben will?
Müssen andere diskriminiert, verfolgt oder fertiggemacht werden?
In was für einer Welt sind wir gelandet?
Wieso ist das so?
Leute kommen zu uns, weil in ihrem Land Krieg ist und sie wollen einfach normal
leben und dann werden sie fertiggemacht, diskriminiert oder verfolgt und das nur
weil sie aus einem anderen Land kommen?
Wieso ist das so?
Sie kommen aus dem Land, weil sie da nicht mehr leben können und dann sowas.
Wieso sind viele Menschen so?
Fühlen die sich dann besser oder was?
Kommen sie mit sich selbst nicht klar und machen das? Damit sie sich besser
fühlen?
Wieso muss man so tief am Boden sein ,dass man andere fertigmacht, um sich
besser zu fühlen?
Warum ist das so?
Wo sind wir gelandet?
Warum ist das so?
Warum werden Menschen unterdrückt, weil sie ihre Meinung sagen wollen?
Warum werden Menschen verfolgt, weil sie aus einem anderen Land kommen?
Warum werden Menschen diskriminiert, weil sie anders aussehen?
Warum ist das so?
Wir sind alle die gleichen Menschen?
FRIEDENSBLICK IN DER HÖLLE
Nick Caton
Adolfinum Gymnasium Bückeburg, JG 9
Buch S. 78 / Prosa // Arbeitsblatt: -
FRIEDENSBLICK IN DER HÖLLE
Langsam gehe ich über einen langen Erdweg, auf der Suche nach etwas. Der Wind treibt die Blätter vor sich her, während sich der Himmel verdunkelt. Auf der Rückseite von einem vergilbten Bild habe ich zwei Ziffern notiert, einmal die 19 und dann die 16. Gerade als der Regen einsetzt, finde ich, wonach ich gesucht habe. Ein Kreuz, das jemand vor langer Zeit in den Boden gerammt hat. Ich betrachte das Kreuz und erinnere ich mich an jenes Ereignis. Unwillkürlich beginnt mein Körper zu zittern. Das Zittern wird so stark, dass ich mich hinsetzen muss. Bilder steigen in mir auf. Vor vielen Jahren hatte ich, nur wenige Meter entfernt von hier, in einem tiefen Graben gesessen.
Auch damals herrschte regnerisches Wetter, als man uns befahl, aufzustehen und uns aufzureihen. Wir taten, was man von uns verlangte, wir hatten keine Wahl. Für ein paar angespannte Minuten standen wir da, als ein schriller Pfiff ertönte. Auf das Kommando kletterten wir, so schnell es uns möglich war, die Leitern hinauf und begannen zu rennen. Der Boden war schlammig und der Regen peitschte uns in das Gesicht. Wir rannten von Krater zu Krater, um Schutz zu suchen. Um uns herum pfiffen die Kugeln. Der Lärm war ohrenbetäubend. Unsere Gruppe löste sich nach und nach auf, jeder rannte für sich allein, um sein Leben. Als wieder eine Maschinengewehrsalve um mich herum pfiff, sprang ich in den nächsten Krater. Schutzsuchend ging ich in Deckung und wartete. Mein Blick wanderte ziellos durch den Krater und ich erschrak. Wenige Meter entfernt von mir hockte noch ein anderer Soldat. Seine Uniform war nicht die unsrige. Er zitterte und hielt seine Hände über den Kopf. Instinktiv zielte ich mit meiner Waffe auf ihn. Seine Augen weiteten sich vor Angst und er rief etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, während er sich gegen die Wand des Kraters presste. Ich zielte weiter auf ihn und war selbst fast gelähmt vor Angst. Er machte beschwichtigende Gesten, sprach weiter in seiner unverständlichen Sprache und griff dann zögernd in die Jackentasche seiner Uniform. Ich spannte den Abzug. Langsam, fast wie in Zeitlupe, kam seine zitternde Hand wieder zum Vorschein. Er hatte ein Bild in der Hand, das er mir entgegenstreckte. Immer noch auf ihn zielend machte ich ein paar kleine Schritte auf ihn zu, um das Bild zu betrachten. Es war eine abgegriffene Fotografie, auf der eine Frau und ein kleines Mädchen zu sehen waren.
Ich hielt inne.
Der Mann begann wieder zu reden. Er zeigte auf das Bild, dann auf sich und lächelte. Er lächelte, während um uns herum der Krieg tobte. Dieser Mann war keine Gefahr für mich, er hatte ganz offensichtlich nicht einmal ein Gewehr bei sich, das musste er im Kriegsgetümmel verloren haben. Langsam ließ ich meine Waffe sinken und lächelte ebenfalls. Ich weiß nicht, wie lange wir beide dort so gestanden haben, einander anlächelnd. Es war, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Dann ertönte plötzlich ein Knall in unmittelbarer Nähe. Eine Kugel schoss, meine Wange streifend, an mir vorbei und traf ihn. Hinter mir, am Kraterrand, hockte geduckt ein Offizier unserer Armee und schrie mich an, dass ich gefälligst weitergehen sollte. Dann war er wieder verschwunden, vermutlich in Richtung des nächsten Kraters. Ich erinnere mich nur noch schemenhaft daran, dass ich dem toten Soldaten vorsichtig die Augen schloss und ihm das Bild aus der Hand nahm. Dann machte auch ich mich auf den Weg zum nächsten Krater.
Nun stehe ich hier, an dem Grab jenes Mannes. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht, seinen Namen herauszufinden, und heute endet meine Reise. Der Regen hat noch nicht aufgehört, als ich langsam aufstehe und den Friedhof verlasse, auf dem alle Gräber gleich aussehen. Die alte Fotographie habe ich dort gelassen. Ihre Reise ist nun ebenfalls beendet. Sie ist da, wo sie hingehört…
DIE KÖNIGIN UND IHRE BLUMEN
Lena Ramadani
Gymnasium Bad Nenndorf, JG 9
Buch S. 63 / Prosa // Arbeitsblatt: -
DIE KÖNIGIN UND IHRE BLUMEN
Es gab einst ein Königreich, verborgen zwischen dichten Wäldern und schimmernden Seen, in dem ein Garten erblühte, dessen Blumen selbst in der düstersten Nacht schimmerten. Dieser Garten war der ganze Stolz der Königin und ein Schatz ihres Herzens.
Eines Frühlingsfestes erhielten sie Besuch von edlen Königinnen und Königen aus fernen Ländern, die mit großen Geschenken und Schätzen anreisten. Die Königin freute sich, ihnen die Farbenpracht ihrer Blumen zu zeigen. Doch statt Lob und Bewunderung erntete sie zu ihrem Entsetzen nur Lachen und Hohn. Ein König aus einem fernen Land trat hervor und öffnete eine glänzende Schatulle, aus der eine einzige Rose aus purem Gold erschien. Ihre Blätter und Blüten funkelten wie das Licht der Sonne selbst, und sie verdiente die Bewunderung der Gäste für ihr makelloses Aussehen. Mit stolz geschwellter Brust verkündete der König: „Das ist wahre Schönheit; ohne Fehler oder Schwäche. Eure Blumen mögen farbenfroh sein, aber sie verblassen neben der Perfektion dieser Rose.“
Von diesem Tag an schlich sich eine seltsame Unzufriedenheit in das Herz der Königin. Wenn sie an ihren Blumen vorbeiging, sah sie nicht mehr ihre Farbenpracht oder das Leben, das in ihnen leuchtete, sie sah nur das, was ihrer Meinung nach fehlte.
Am nächsten Morgen rief sie ihren treuen Gärtner zu sich und befahl ihm, jede ihrer Blumen herauszureißen. Doch der Gärtner versuchte ihr Einhalt zu gebieten: „Eure Hoheit, diese Blumen gehören zu eurem Garten wie die Sterne zum Nachthimmel.“ Doch die Königin bestand darauf und so begann der Gärtner zu versuchen. Zu seinem Entsetzen ließen sich die Blumen, tief verwurzelt, nicht herausreißen. Selbst die stärksten Soldaten konnten sie nicht bewegen. Schließlich forderte die Königin, dass der Gärtner alle andersfarbigen Blumen mit Gold übermale, um sie zumindest den gelben Blumen ihres Gartens anzupassen. Aber so oft er die Farbe auch auftrug, wenn das Gold die Blüten berührte, perlte es ab, als würden die Blumen es ablehnen.
Von da an fühlte sich die Königin in der Nähe anderer Adliger unwohl. Sie hatte ihren einstigen Stolz vergessen und betrachtete ihren Garten nur noch als Quelle der Scham. Wenn jemand ihre Blumen lobte, wies sie das Kompliment ab und versuchte, ihre Freude runterzumachen. Mit der Zeit verlor ihr Garten, wie auch das Königreich, an Glanz. Sie fühlte sich langsam in ihrem eigenen Land fehl. Sie stellte die Vielfalt ihres eigenen Landes und seiner Geschichte infrage.
Ihr letzter Befehl war es, die goldenen Rosen aufzufinden und im Königreich zu pflanzen. Der Gärtner jedoch bedauerte, dass die Rosen einen anderen Boden brauchten und ihrem Land nur schaden würden. Er sprach zu ihr: „Vielleicht liegt der wahre Zauber dieser Blumen nicht darin, wie sie aussehen sollen, sondern darin, wie sie von Natur aus wachsen. Statt sie zu verbergen, sollten wir ihnen beim Entfalten helfen.“ Die Königin, in tiefer Trauer versunken, nickte nur müde.
In jener Nacht, als sie aus dem Fenster blickte, sah sie etwas Unerwartetes: Die Blumen, in voller Pracht, strahlten in einem schimmernden Licht, das den Garten verzauberte. Ein leiser, vergessener Funke erwachte in ihr, und eine Träne rollte über ihre Wange. Sie erinnerte sich daran, wie viel diese Blumen ihr einst bedeuteten.
Von diesem Tag an kümmerte sich die Königin um ihren Garten mit neuem Stolz. Sie lernte, ihre Blumen nicht mehr als unzureichend zu betrachten und realisierte, dass sie eine Schönheit hatten, die nicht verglichen werden musste, um wertvoll zu sein.
SETTELA STEINBACH
Elisa Berkling
Ratsgymnasium Stadthagen, JG 12
Buch S. 57 / Prosa // Arbeitsblatt: -
SETTELA STEINBACH
Ich habe mich für das Porträt von Settela Steinbach entschieden. Als ich es zum ersten Mal sah, hat mich ihr Gesichtsausdruck gefesselt und nicht mehr losgelassen. Sie wird 1934 in Buchten geboren, einem kleinen Ort in den Niederlanden, der etwa 3,5 h von Stadthagen entfernt liegt. Ihre Familie gehört zu der Gruppe der Sinti und Roma. Settela wächst mit neun Geschwistern auf, bis das Familienglück durch die Nazis unwiderruflich zerstört wird. Am 16.Mai 1944 verhaften die Nazis die gerade einmal neun Jahre alte Settela sowie weitere Familienmitglieder und verschleppen sie in das Durchgangslager Westerbork...
...eiskalt
...herzlos
...ohne jeglichen Funken von Menschenwürde.
Um sie weiter zu demütigen, wird Settela jedes einzelne Haar abgeschoren. Kahlköpfig und völlig entblößt steht sie nun da und schämt sich fürchterlich. Bei der nächsten Gelegenheit bindet sie sich ein weißes Tuch um ihren Kopf. Eine kleine Geste, die ein Stück Sicherheit für sie bieten kann. Am 19.Mai 1944, nach nur drei Tagen in Westerbork, wird sie mit weiteren Familienmitgliedern für die Deportation in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ausgewählt. Insgesamt 244 Sinti und Roma werden an diesem Tag in Viehwagons gepfercht. Kurz bevor die Tür des Wagons fest verschlossen und sich erst wieder in Auschwitz öffnen wird, späht Settela durch den letzten, noch offenen Spalt.
Der jüdische Fotograf Rudolf Breslauer machte, im Auftrag der SS, Aufnahmen vom Lageralltag in Westerbork und lichtete somit auch Settela ab. Mich fasziniert, wie viel Ausdruck in ihrem Gesicht liegt. Obwohl der Spalt nicht groß ist, spricht ihre verstörte Miene das unvorstellbare Leid aus.
Ihr Erscheinen gleicht dem einer Erwachsenen und nicht dem einer 9-Jährigen, denn es fehlt jegliche kindliche Freunde. Das berührt mich immer wieder zutiefst. Sie wirkt so verletzt und als wüsste sie, dass ihr Schicksal längst besiegelt ist.
Dann fährt der Zug ab, die Menschen stehen, sitzen und liegen gestapelt in den Wagons:
Ohne Nahrung
Ohne Wasser
Ohne Licht
Ohne Luft zum Atmen
Ohne Begründungen für das Verbrechen, das gerade an ihnen passiert,
...ohne einen Ausweg.
Nach Eintreffen des Transports werden die 244 Sinti und Roma in das sogenannte „Zigeunerlager“ gesteckt.
Hier führt Dr. Josef Mengele unzählige medizinische Experimente an den Häftlingen durch. Die Männer, Frauen und Kinder sind seiner Willkür ausgesetzt und werden Opfer von gewaltvollen Versuchen. Die Gefangenen sind gezwungen über Stunden, Tage, Monate und Jahre qualvolle Schmerzen zu ertragen.
Sie müssen ihren Körper für den Forscherdrang von Dr. Mengele hinhalten und letztendlich ihr Leben dafür opfern.
Im Sommer 1944 räumt die SS das sogenannte „Zigeunerlager“, um Platz für ungarische Juden zu schaffen, die zur Zwangsarbeit verpflichtet werden.
Die „nicht arbeitsfähigen“ Sinti und Roma werden zu den Gaskammern geleitet und vergast. Unter diesen Häftlingen war auch Settela Steinbach, ein 9-Jähriges unschuldiges Mädchen. Settelas Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern teilen dieses Schicksal mit ihr. Für die Nazis war Settela letztendlich nur eine Nummer und ein Häufchen Asche.
Doch für die Nachwelt sind sie und auch ihr Porträt ein Symbol des systematischen Massenmordes der Nazis an den Sinti und Roma.
Preisträgerin 2022
SONDERPREIS 2022: AUSGEZEICHNET VON AMNESTY INTERNATIONAL
2022
Emma Charlotte Lerch
Wilhelm-Busch-Gymnasium, JG 12
Buch S. 21 / Gedicht // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
2022
Ich bin nicht aus der Ukraine, Ich bin Muslima,
Eine »Illegitime«,
Sehe keine Perspektive,
Erfahre wenig Menschenliebe.
Für Ukrainer der vorübergehende Schutzstatus, Artikel und Interviews,
Auf sie aller Fokus,
Für uns der Ausschluss,
Nur wir sind der Virus.
Wenn man doch gleich aussähe,
Man uns vielleicht nicht verschmähe,
Nicht über uns hinwegsähe,
Vielleicht Akzeptanz erspähe,
Doch es fehlt geographische Nähe.
Auch ist es die kulturelle Ferne,
Uns als Externe
Sieht man nicht gerne,
Wir sind keine Augensterne,
Fehlende Wesenskerne.
Krieg in der Heimat,
Nicht mehr zu ertragen
Das Blutbad,
So dass man sich auf einen Schlag
Auf die Flucht begab.
Doch hier wird unterschieden,
Nur eine unter vielen.
Wer verdient den Frieden?
Wer wird gemieden?
Und muss sich verabschieden.
Nicht jeder bekommt Freiheit.
Ist das Gerechtigkeit?
Es ist Leid,
Das ist die nackte Wahrheit,
Das ist Gesetzmäßigkeit
Und Gängigkeit,
Der Gesellschaft Hässlichkeit.
Wenn ihr Teil davon seid,
Mein Beileid.
Preisträgerin
UNSER SCHATTEN
Animation von Emma Nienstedt, Jolina Paul und Nina Naumann
Ratsgymnasium Stadthagen, JG 11
Buch S. 49 / Film-Animation // Film: DOWNLOAD-LINK // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
UNSER SCHATTEN
Dies musste Finn an seinem eigenen Leib erfahren. Finn war ein einfacher Junge, er hat nie Probleme gemacht, sich immer angestrengt und wollte seine beste Seite zeigen. Nie ist er aufgefallen. Sein Schatten blau, wie man es in dieser Welt erwartete. Der Schatten seines Vaters ist auch blau. Der seiner Mutter pink. Das war normal. Niemand würde dem Beachtung schenken. Warum sollte man? Der Schatten ist doch nichts Besonderes.
Er ist überall, verfolgt uns ein Leben lang bis zum Tod. Doch Finn fragte sich immer, was diese Farbe zu bedeuten hatte. Niemand schien so zu denken wie er, also hörte er auf. Er wollte schließlich nicht komisch oder anders wirken.
Wir leben in einer Welt
ohne Akzeptanz und
Toleranz von
Vielfältigkeit. Anders
sein bedeutet, weniger
wert zu sein.
Unsere Identität
gehört nicht uns,
sondern der
Gesellschaft.
Finn wuchs auf, ging als normaler Junge in die Schule, schloss Freundschaften. Eines Abends aber bemerkte er etwas Ungewöhnliches. Sein Schatten begann sich pink zu färben. „Was ist das? Warum passiert das?“, dachte er. Ihm wurde unwohl.
Er fragte sich, ob das mit jedem passiert, ob das normal sei. Diese Nacht konnte er nicht einschlafen.
Er machte sich viele Gedanken, überlegte sich, wie er es rückgängig machen könnte.
Am nächsten Tag passierte das, wovor er Angst hatte. Andere schienen diese pinke Stelle zu bemerken. Manche guckten nur komisch, andere machten sich darüber lustig. Nicht mal sein bester Freund würde ihn angucken. Warum machten sich die anderen Kinder darüber lustig. Nur weil er anders war?
Finn war nun fest entschlossen, etwas gegen die Farbe zu tun. Er müsste alles wieder rückgängig machen, damit die anderen ihn wieder akzeptieren können. Doch die pinke Farbe breitete sich immer mehr aus und desto mehr machten sich andere über ihn lustig. Nicht nur in der Schule, auch im Bus und in dem Supermarkt. Seine Eltern schienen die Veränderung auch zu bemerken. Sie wussten weder, was sie machen sollen, noch, was diese Veränderung zu bedeuten hat. Die Zeit verging und Finn fand keine Lösung, bis im klar wurde, dass er selbst die Lösung war. Er wusste, die Farbe wieder blau werden zu lassen, wäre nicht die Lösung, sondern das Pink zu akzeptieren. Er musste lernen, dass das Problem nicht war, sich anpassen zu müssen, sondern dass ihm diese Zugehörigkeit so wichtig war. Plötzlich bemerkte er, dass ihm die Veränderung gefiel. Er war so damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was andere von ihm hielten, dass er vergessen hatte, darüber nachzudenken, was er selbst von sich hält. Er wusste, was er nun zu tun hatte. Er tat das, was er schon immer unbewusst tun wollte. Er wurde er selbst und niemand konnte ihn stoppen.
Unser Schatten. Er verfolgt uns. Wir können ihm nicht entkommen. Er ist ein Teil von uns. Er gehört zu uns. Man kann ihn nicht zu dem formen, was er nicht ist. Wir müssen ihn akzeptieren.
Der Schreib-Wettbewerb SPUREN-SCHREIBEN 2019
Buch S. 11-14 / Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
Aus dem Vorwort / von Andreas Kraus:
In ihrem berühmten Gedicht über den „Hass“ charakterisiert die polnische Lyrikerin Wyslawa Szymborska ihn als das weitaus stärkste aller menschlichen Gefühle. Seine überaus biegsame Anpassungsfähigkeit lässt ihn nur auf die nächste Gelegenheit lauern, um wieder aktiv zu werden und die „Menschenteppiche“ in den Straßen, Plätzen und Stadien auszurollen, wie es im Gedicht heißt.
Die Menschenfeindlichkeit von Menschen gegen Menschen, Ideologien der Ungleichwertigkeit wie Rassismus und Antisemitismus, Nationalismen, autoritäres und antidemokratisches Denken nehmen zu und bringen es in Gestalt rechtsextremer und autoritärer Parteien bis in viele europäische Parlamente. Der „Hass“, von dem Szymborska spricht und den wir in Europa für überwunden gehalten hatten, ist salonfähig geworden – und er tötet in Gestalt des Rechtsterrorismus auch wieder. Das gesellschaftliche Klima insgesamt ändert sich, es wird rauer.
Aber der Hass ist nur das starke intentionale Motiv für Stigma- tisierung, Ausgrenzung und Verfolgung. Er ist nicht erfolgreich, wenn er nicht durch die Gleichgültigkeit den Schicksalen Verfolgter gegenüber begleitet wird. Das scheint der wahre Kern der Erkenntnis von Primo Levi zu sein, wenn er konstatiert, dass der Genozid, den er überleben konnte, sich in ähnlicher oder anderer Form wieder ereignen kann: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ Gleichgültigkeit muss daher in Empathie transformiert werden, damit der Hass keine Chance erhält, sich in der Gesellschaft auszubreiten. Wir wissen es aus den Forschungen zur Zivilcourage: Auf die Zuschauenden kommt es an – nur wenn sie aktiv werden und für die Opfer Partei ergreifen, dann kann es gelingen, die Täter zu stoppen.
Mit dem Projekt „Spuren Schreiben“, das als kreisweiter Schreibwettbewerb für Schaumburger Schulen ab dem 8. Jahrgang im Herbst 2019 startete, ist genau das beabsichtigt: die Entwicklung von Empathie, die Bildung von Mitgefühl, Anteilnahme an dem Schicksal und Parteinahme für die Würde verfolgter Menschen. Aus guten Gründen haben wir uns dabei nicht auf die NS-Geschichte begrenzt – auch wenn sie aufgrund ihres paradigmatischen Charakters sicherlich im Mittelpunkt steht –, sondern öffnen die Fragestellung für alle historischen Epochen, verfolgte Menschengruppen und natürlich die Gegenwart.
Menschen hinterlassen Spuren in ihrem Leben; ob es um die aus Deutschland flüchtenden jüdischen Kinder ging oder um die aus Syrien und anderswo flüchtenden Menschen geht – am Umgang mit ihren Schicksalen erweist sich die Humanität. Und Humanität ist das Gegenteil von Hass und Gleichgültigkeit.
Das Vorbereitungsteam wusste nicht, worauf es sich einließ, als es das Schreibprojekt startete: Wie kann der Kontakt zu den Schulen hergestellt werden? Würde es an den Schulen – von Kolleginnen und Kollegen, von Schülerinnen und Schülern – angenommen? Mit wie vielen Beiträge und in welcher Qualität ist zu rechnen? Nach welchen Kriterien sollen die eigegangenen Beiträge von der Jury beurteilt werden? Klappt die technische Übermittlung der Daten auf die Homepage? etc. Fragen über Fragen und Neuland für alle Beteiligten.
Aber es hat sich gelohnt: Etwa 230 Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 8 bis 13 von sieben Schulen aus dem Landkreis haben sich mit 180 Beiträgen beteiligt; eine Auswahl, darunter auch die Preisträger*innen, ist hier dokumentiert. Die Ergeb- nisse sind bemerkenswert und von hoher lyrischer und erzählerischer Qualität.
Deshalb gilt unser Dank in erster Linie den Jugendlichen, die mit großem Ernst und Engagement, mit Kreativität und ungewöhnlichen Ideen die Herausforderung angenommen haben. Bedanken möchten wir uns auch bei den Lehrerinnen und Leh- rern, die ihre Lerngruppen motiviert und begleitet haben.
Das Projektteam, das den Schreibwettbewerb geplant und realisiert hat, besteht aus: Manuela Bank, Nina Dopheide (auch Jury), Lutz Gräber, Volkmar Heuer-Strathmann (auch Jury und Buchkonzept sowie Fotos), Larissa Jaunich (auch Jury), Viktoria Komander, Hans-Dieter Lichtner, Emma Rüther und Carolin Wille.
Die Jury besteht zusätzlich aus: Max Lichte, Horst Klösel, Petra Rickmann und Katharina Pätzold (auch Layout/graphische Gestaltung des Buches).
Die Federführung von allem liegt bei Sandra Wolf (auch Buch- konzept). Ihnen allen sei für ihr Engagement gedankt! Schirmherrin des Ganzen – und darüber haben wir uns besonders gefreut – ist die in München lebende Lyrikerin und Schriftstellerin Dagmar Nick, die jüdische Vorfahren in Stadthagen hatte. Sie hat uns auch ihr Gedicht „Letzte Bilanz“ exklusiv für dieses Buch zur Verfügung gestellt.
Aber ohne die großzügige finanzielle Förderung durch die Bürgerstiftung Schaumburg, die sich sofort bereit erklärte, das Projekt mit einer namhaften Summe zu fördern, wären Wettbewerb und Buch nicht möglich gewesen. Ebenfalls unterstützt haben uns dabei die Landeskirche Schaumburg-Lippe, die Rautenberg-Foundation/Los Angeles und der Altschülerbund des RGS.
Herzlichen Dank allen Förderern!
PREISTRÄGERIN
GUTE NACHT ESTLAND
ein Lied von Hannah Luise Richter
Ratsgymnasium, JG 12
Buch S. 19-23 // Lied // Audio: DOWNLOAD-LINK // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
HEAD ÖÖD
Ein dunkles Gemäuer, feucht und kalt
der Wind trägt das Rauschen des Meeres herüber,
aber um mich sich das Unbehagen schnallt,
als ich die Eingangstür betrete und Stufe um Stufe
die Treppe hoch in den langen Flur nehme,
mit seinem Zementfußboden und an den kahlen Wänden,
Farbschicht um Farbschicht hinunterblättert
wie Erinnerungs- und Bilderfetzen,
die erinnern an das, was hier einmal war
und erzählen von dem Schrecken,
von den Hunderten,
die hier über die Jahrzehnte verreckten,
von den Tausenden,
die hier eingesperrt und eingepfercht und gedemütigt wurden
und auch einmal wie ich
diesen Flur entlangschritten,
aber nein, nicht wie ich,
denn sie hatten kein eigenes Leben mehr,
von aller Würde beraubt
in eine der Zellen gestoßen,
in die Zellen, die sich eine neben der anderen
aneinanderreihten
und die schwere Eisentür fiel krachend ins Schloss,
wenn wieder ein neuer Unschuldiger kam
in die Zellen; in denen sie eng aneinander liegend,
doch frierend sich schlaflos von einer Seite auf die andere
drehten
Dieses Gebäude scheint zu sagen:
Gute Nacht – dem Frieden und der Menschenwürde,
Gute Nacht – der Menschlichkeit
Gute Nacht – und ein Willkommen dem Grauen
Gute Nacht – und ein Willkommen den Gefangenen,
die hier Tag um Tag ausharrten und doch nur warten
mussten auf,
ihren Abtransport in ein Arbeitslager,
und ein neues Kapitel der Menschenverachtung nahm
seinen Lauf,
als ob das hier nicht schlimm genug gewesen wäre,
noch nicht entwürdigend genug
Ich laufe weiter in die nächste Zelle,
in der eine leise Stimme erklingt,
eine dunkle, warme Stimme
in all dem Grauenvollen,
in einer nackten Zelle mit dem kalten Boden aus Zement
und dann diese ruhige Stimme,
die immer weiter in meinen Kopf dringt:
sie singt.
Sie singt und man hört dieser Stimme die tiefe Traurigkeit an
die mich zieht in ihren Bann
und dabei spendet sie doch auch Trost,
denn in dieser Stille,
wo nur der Wind durch die Zellen pfeift,
wird jeder gut gemeinte Ton zu einem kleinen Lichtblick,
während mein Blick suchend umherschweift,
und nicht begreift, wie so etwas passieren kann.
Aber der Klang der Stimme erzählt von Frieden, von Freiheit,
einem Schlussstrich nach dem ganzen Leid, denn
Gute Nacht – der Freiheit, als die Deutschen kamen,
Gute Nacht – der Freiheit, als die Russen wieder übernahmen
Gute Nacht – dem Frieden und dem Glück.
Sie war 16,
als man sie gefangen nahm und sie hierherkam,
als politische Aufrührerin angeklagt,
sie hatte es gewagt,
Widerstand zu leisten
gegen das Terrorregime,
dass sie dafür
in ihrer kleinen, dunklen Zelle,
in der sie mit anderen ihrer Partisanengruppe lebte,
einen so hohen Preis bezahlen musste,
ob sie das wusste und ob sie wusste,
dass man sie später für sieben Jahre ins Arbeitslager
schicken würde?
Von dem kleinen, vergitterten Fenster,
oben eingelassen in ihrer Zelle,
konnte sie über den Stacheldraht,
der die hohen Mauern umgab,
auf das Meer blicken,
die Freiheit zum Greifen nah und trotzdem unerreichbar
weit entfernt
und links von ihrem Fenster die anderen Zellen,
mit Insassen, die ihre Deportation kommen sahen
und rechts die Einzelzellen, mit denen,
deren Tod herannahen sollte
in der Mitte Luule-Laine Johanson.
Sie kletterte jeden Abend zu ihrem Fenster empor,
und um ein wenig Trost zu spenden,
sang sie dieses Lied.
Sie sang und sang,
sie wünschte allen eine gute Nacht,
die wohl keiner von ihnen jemals hatte,
denn das war unmöglich in dieser Kälte und Angst.
Sie sang, die Nacht sei gekommen
und die Nacht war da,
wo man sich umsah,
Schrecken und Dunkelheit in den Gesichtern,
deren Geschichten aufgeschrieben sind auf den
hängenden Lichtern im Nebenraum.
Das kleine Land,
Spielball von zwei Kriegesmächten
das doch nur seine Unabhängigkeit verlangt
und dann als Opfer zweier Kriege
unvorstellbar viele Menschen zu beweinen hatte.
Gute Nacht – Estland
Gute Nacht – dem Kinderlachen
Gute Nacht – der eigenen Kultur und Sprache
Luule-Laine hat sich eingesetzt,
für die Unabhängigkeit ihres Landes,
sie hat Menschlichkeit zurückgebracht,
ein wenig Mut und Hoffnung entfacht,
dort, wo es am bittersten nötig war
in den Gefangenen damals und damit auch in mir,
mit so einfachen Mitteln,
hat sie nicht aufgehört zu protestieren,
und zu zeigen die grenzenlose Ungerechtigkeit und das
unendliche Leid.
Gute Nacht – den immer wiederkehrenden Kriegen
Gute Nacht – den Opfern der Macht und der Gier
Willkommen der Freiheit und dem Frieden!
Und ein Willkommen jedem Menschen, der hier
seinen kleinen Teil dazu beiträgt.
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Die deutsche Übersetzung des Liedes „Head ööd“:
„Gute Nacht, gute Nacht,
wir wünschen allen eine gute Nacht,
die Nacht ist nun gekommen,
gute Nacht, gute Nacht“
Luule-Laine Johanson kam 1946 in das Patarei Gefängnis in Tallinn, in dem sich heute ein Museum befindet. Als ich diesen Sommer das Gefängnis besuchte, beeindruckte mich ihre Geschichte tief und ich entschied mich, über ihr Lied zu schreiben.
Hannah Luise Richter
PREISTRÄGER
ODIUM
von Maurizio Piro
Ernestinum, JG 12
Buch S. 29-35 // Gedicht // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
ODIUM
Der Hass, ein doch so altes Stück
Das immerwährend kehrt zurück
Und auf der Wanderbühn’ der Welt
In Neubesetzung wird erzählt
Mit Lautenklang der Vorhang schwingt
Gibt freie Sicht auf den Prolog
Vom Menschen der sich nicht besinnt
Und neuem Zwist ward hinbewog’
Wenn auch der Hergang stets im Gleichen
Trübt nicht den Spielergeist
Der heimlich sich mit Blutrunst speist
Und Schönheit findet in den Leichen
Brutus greift zum Dolche dann
Will beenden, was begonnen
Doch bevor Blut sei verronnen
Setz geschwind zum Wort ich an
„Ist euch das eigene Leben lieb
So sprechet weder Vers noch Strophe
Tragödie, das heißt Katastrophe
Da in verlor’ne Schlacht ihr zieht!“
Worin liegt der Sinn zu hassen
Was vom selben Schufe ist
Was von Grund auf gleich sich misst
Wir täten besser es zu lassen
Wenn die Menschheit ist ein Leib
Würd’ die rechte Hand es wagen
Gar die linke abzuschlagen
Ohne dass vor Schmerz sie schreit?
Die Schneide sinkt in Brutus’s Händen
Schmerzlich wird ihm nun bewusst
Würde er sein Werk vollenden
Sei auch er ein Romulus
Haltlos Caesar ihn umfasst
Der Blutschuld Kreis gebrochen war
Und beiden ward geoffenbart
Dass Zwietracht nur durch Liebe blasst
Da richtet Caesar sich zum Volk
Und still wird’s auf dem Podium
„Unser Dank dem Redner zollt
Der uns befreit vom Odium“
„Oh Dramaturg besinne deiner
Führ erneut den Kiel zum Blatt
Auf dass dein Wort sei nun an reiner
Für den tintenfrischen Akt“
„Spieler, steht nicht tatenlos
Der Arbeiter bedarf es viele
Applaus fällt dir nicht in den Schoß
Drum jeder sich bewogen fühle!“
Chöre singen, Harfen klingen
Der Vorhang weht ein zweites Mal
Die Spannung kocht im Herzensinnern
Und schwillt zu immer größ’rer Qual
Oh welch ein Anblick zeigt sich mir
Da war ein Nichts im Hauch grotesque
Bloß Tänzer, fein, mit größter Zier
In lupenreinstem Arabesque
Und seht, da kommen die Akteure
Gewandet nun in neuem Kleid
Wo einst war Neid, weilt Heiterkeit
Da jeder auf die Liebe schwöre
Dort seh’ ich Menschen Herz an Herz
Die freudig stimmen Lieder an
Der Echtheit Flügel himmelwärts
Verhallt Leukosias Gesang
Der Verse lichte Euphorie
Erhellt schon bald das Erdenrund
Zwingt selbst den Mörder in die Knie
Und bindet sie im Einklangsbund
Das letzte süße Wort des Spielers
Schallt als Echo in dem Raum
Entzieht uns zwar aus diesem Traum
Und hallet doch im Herzen wider
Da ging ein Lächeln durch die Reihen
Gänzlich neu war jenes Stück
Ein mancher Tränen bat verzeihen
Da unendlich schien ihr Glück
Und nun, da sich der Vorhang schließt
Sei eine Frage dir gestellt
Ob es sie gibt, der Dichtung Welt
Oder du schlicht Verse liest?
Im großen Opus uns’rer Sphäre
Trittst du den lieben Tag lang auf
So doch bedenk, ob dein Verlauf
Zu ächten oder loben wäre
Soll der Hass denn ewig währen
Stets Leid zur Königin uns krönen
Ändern wir den Lauf der Zeit!
Auf dass der Mensch sich nie entzwei
Drum dieser Worte Auftrag sei
Ein Epos für die Ewigkeit!
PREISTRÄGERIN
DIE GESCHICHTE EINES HASEN
von Friederike Riess
Ratsgymnasium, JG 12
Buch S. 39-44 // Kurzgeschichte // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
Eins
Ein ganz normaler Morgen. So fängt im Grunde jede Geschichte an. Und an diesem ganz normalen Morgen liegen Scherben in den Pfützen auf der Straße, und zwar viel zu viele. Eine ganz normale Frau starrt auf die Stelle, wo eigentlich die Scherben hingehört hätten. Ein ganz normaler Spielzeugladen, in einer ganz normalen Straße, mit ganz normalen Menschen. Und weil auch sie ein ganz normaler Mensch ist, dreht sich die Frau um, geht ins Haus und starrt in den Topf mit der Kohlsuppe.
Die Frau heißt Trude. Sie ist blond, mittelgroß und mittelhübsch, und sie hat einen Mann und einen Sohn, den sie über alles liebt. Er heißt Klaus, und er ist klein, dünn und fröhlich und viel zu frech für diese Zeit. Der Mann ist vor Jahren gegangen, um gegen Franzosen zu kämpfen, und ohne Beine wiedergekommen. Jetzt spielt er Akkordeon. Trude kocht Kohlsuppe, denn etwas anderes gibt es nicht zu essen. Nicht heute, nicht morgen und nicht an Klaus‘ Geburtstag, genauso wenig wie den Teddybären, den er sich so wünscht. Vom Akkordeonspielen kann man nun mal kein Spielzeug kaufen. Und sie weint in die Kohlsuppe, die wird versalzen vor lauter Mutterliebe. Die Tränen sind wie der Regen auf der Straße, das bringt sie auf eine Idee. Die Welt hinter den Scherben, sie enthält bestimmt auch Stofftiere. Was kümmert es die Nachbarn, sie sind eh verschwunden, und wer weiß, wer vorher schon alles da war und gesucht hat.
Der Laden ist dunkel und eigentlich auch kein Laden mehr, der Wind pfeift durch die eingeschlagenen Fenster und ist beinahe kälter als draußen. Neben der Tür auf dem Boden liegt ein einzelner Puppenkopf, der sie traurig anstarrt. Weiter hinten der Inhalt der Regale, ein Haufen von toten Stofftieren, von Bauklötzen erschlagen. Sie gehört nicht hierher, und bevor sich das ändert, tritt sie wieder die Flucht an. Sie stolpert, fällt auf etwas Weiches, es ist ein Stoffhase. Er lebt, sagen seine Augen, er hat das Massaker überstanden. Was soll sie anderes machen als ihn mitnehmen? Es ist kein Teddy, aber das wird niemanden stören. Sie wird ihn retten.
Zwei
An seinem Geburtstag scheint die Sonne. So muss das auch sein an einem Geburtstag, der ganze Tag muss ein bisschen leuchten, es ist schließlich etwas Besonderes. Irgendjemand hat sogar die Straße draußen gefegt. Aber das Beste an diesem Tag ist natürlich das Geschenk. Ein richtiger Hase! „Akkordeonspielen bringt halt doch etwas“, sagt Vater und Mutter guckt ihn böse an. Aber eigentlich freut sie sich genauso. „Darf ich zu Max gehen und ihm den Hasen zeigen?“ „Ach, Klaus.“ Aber es ist sein Geburtstag, deswegen darf er trotzdem. Er hüpft durch die Straßen und zeigt dem Hasen die Stadt, die wehenden Fahnen und die übermalten Schilder und die Sterne, die an Hauswände gepinselt sind. Vor einem der Sterne hält er an, denn dort wohnt Max, sein bester Freund.
Er klopft. Max´ Schwester macht auf. Nur einen Spalt, aber er sieht trotzdem, dass sie weint, und ihre Stimme klingt komisch. „Max hat keine Zeit“, sagt sie. „Max muss packen. Wir fahren morgen.“ „Wohin?“ „Nach England, zu Verwandten. Nur eine Weile, aber sag niemandem etwas, du musst jetzt gehen.“ Der Rückweg ist viel länger, der Hase kennt die Stadt ja schon. Der Geburtstag ist vorbei. Wo ist England überhaupt? Der Hase weiß es auch nicht, und Mutter und Vater kann er ja nicht fragen. Weit weg auf jeden Fall. Und sie hat nicht gesagt wie lange, er hat jetzt nur noch den Hasen. Und Max, wen hat Max? „Hase“, sagt er. „Möchtest du England kennenlernen?“ Dann dreht er sich um und rennt und schickt den Hasen auf die Reise, Max braucht ihn mehr.
Drei
Mitten in der Nacht wird er geweckt. Etwas donnert gegen die Tür und brüllt. „Das Monster“, denkt er, „jetzt kommt es und frisst mich.“ Dann wird er geschüttelt und wacht tatsächlich auf, und es donnert immer noch. „Max“, flüstert die Schwester. „Max, steh auf!“ Sie weint schon wieder, wie eigentlich ständig in letzter Zeit. Dann knackt es, das Monster hat die Tür endlich aufgetreten. „Mitkommen“, sagt es, und sie kommen mit. „Hör auf zu betteln“, sagt es, und Mutter ist still. „Hör auf zu weinen“, sagt es zur Schwester, aber das Weinen hört einfach nicht auf, das Weinen geht immer weiter. Ein letzter Blick ins Zimmer, das leere Zuhause, die gepackten Koffer stehen in der Ecke. Bis bald. Das einzige, was er dabei hat, ist der Hase in seinem Arm. „Tut mir leid“, flüstert er. „Wir fahren doch nicht nach England.“ Der Hase ist still, wahrscheinlich hat er Angst. „Keine Sorge“, sagt Max. „Ich passe auf.“
Dann steigen sie in einen Wagen. Es ist kalt und eng und dunkel, aber das ist fast gut so, so muss er all die leeren Gesichter nicht sehen. Der Wagen rattert und rattert, und keiner weiß wohin, jedenfalls will es ihm niemand sagen. Eigentlich würde er es auch lieber nicht herausfinden. Er singt ein Lied für den Hasen, damit er sich nicht so fürchtet, und ein paar der fremden Menschen singen mit. Dann ist es wieder still. Der Wagen rattert weiter, wer weiß wie lange, und irgendwann hält er an.
Draußen sind noch mehr leere Gesichter und noch mehr brüllende Männer. Ein riesiges Gebäude und so viele dünne Menschen, nicht mal die Hunde sehen hier freundlich aus. Wären das doch bloß die Monster aus dem Alptraum, könnte er doch bloß aufwachen! Vater wird weggeschickt. „Bis bald“, sagt er, und jetzt weint Mutter auch noch. Eine lange Reihe, Listen mit Namen, alle sind da. Duschen. „Ich hab doch gestern erst gebadet.“ „Das wissen die Männer ja nicht.“ Der Hase darf nicht mit, denn den Männern darf man ja nicht widersprechen. Er liegt alleine auf einem Berg Kleidung und friert. „Bis bald“, sagt Max, aber was heißt schon bis bald an diesem Ort.
Vier
Einer der brüllenden Männer steht im Raum vor den Duschen und brüllt. Kann er sich eigentlich noch anders verständigen? Über so etwas denkt er nicht nach, er führt ja nur Anweisungen aus. Vor ihm sortieren frierende Menschen Klamotten von anderen Menschen, die nicht mehr aus den Duschen kommen. Auch darüber denkt er vermutlich nicht nach, aber wer weiß das schon. Einem der Menschen fällt etwas herunter, es fällt direkt vor seine Stiefel, also brüllt er noch ein bisschen mehr. Er guckt nach unten.
Vielleicht erinnert ihn der Hase an irgendetwas, vielleicht an seine eigene Kindheit oder an seine kleine Tochter. Vielleicht ist es sogar so etwas wie Menschlichkeit. Kann er das überhaupt, Gefühle haben? Ist er ein Mensch oder ein Monster aus einem Alptraum – oder beides gleichzeitig? Jedenfalls hebt er den Hasen auf. Und dann wird er abgelenkt, weil einer der frierenden Menschen stolpert und fällt, und er passt nicht auf, und schon landet der Hase in der Tasche seiner Uniform. Gibt es einen unpassenderen Ort für ein Stofftier? Aber den Hasen fragt ja keiner, und wenigstens friert er so nicht mehr. Und der Hase sieht den Mann, der ihn mitgenommen hat, und die traurige Antwort ist, es ist tatsächlich ein Mensch. Er hat Gefühle und denkt und auch er war mal ein Kind, das nichts mit irgendetwas zu tun hatte. Der Hase sieht es und zittert.
Der Mann hat ihn vermutlich schon wieder vergessen. Er tut weiter, was er für richtig hält, er führt Anweisungen aus und erfindet selber welche, er brüllt in leere, weinende, frierende Gesichter, er schickt Kinder in Duschen, aus denen sie nicht mehr herauskommen, und abends geht er nach Hause, zu seiner Frau und seinem Kind. Auf dem Weg dorthin greift er in seine Tasche und findet etwas. Es ist ein kleiner jüdischer Hase, und er landet geräuschlos im Dreck.
Fünf
Ein paar Jahre sind vergangen, aber es ist immer noch kalt. Um den Hasen herum sind Männer marschiert und Bomben gefallen, Menschen sind geflohen, Menschen sind verschwunden und Menschen haben zugeschaut. Ein kleines Mädchen läuft durch die Straßen, an der Hand ihres Vaters, auf der Suche nach etwas Hoffnung. Sie wird einmal irgendjemandes Großmutter sein, aber davon weiß sie noch nichts. „Vater“, sagt sie. „Schau, ein Stoffhase!“ Und er ist kalt, dreckig und ein wenig kaputt, aber die Augen sind immer noch lebendig. Sie nimmt ihn mit, vielleicht ist es die Hoffnung, nach der sie gesucht hat.
Sechs
Irgendwann wird das Leben besser. Und ein paar Jahrzehnte später wird der Hase auf dem Dachboden auftauchen und in ein neues Gesicht blicken. Er wird schweigen, aber er wird Geschichten erzählen, von Menschen, die nicht mehr erzählen können, und von Menschen, die nie erzählen wollten. Er wird Fragen stellen und niemand wird Antworten wissen, und er wird Antworten geben für Fragen, die nicht gestellt werden. Das Leben wird weitergehen, ohne Trude, Klaus, Max, den brüllenden Mann und die kleine Großmutter. Aber der Hase wird erzählen.
PREISTRÄGER
HUGO HIRSCH
Mirna Tschersich, Anne Schifkowski und Rike Kölling
Wilhelm-Busch-Gymnasium, Jg. 12
Buch S. 47-57 // Film // Arbeitsblatt: DOWNLOAD-LINK
Die Idee zu Hugo Hirsch
Der Film soll die Sicht eines jüdischen Mädchens namens Magda auf das Leben in Stadthagen unter den sich wandelnden Lebensumständen verdeutlichen. Hierbei soll sich der Beobachter mit ihr identifzieren und dem Wandel von einer unbeschwerten Kindheit zur atemraubenden Unterdrückung durch das NS-Regime zuschauen. Der vernichtende Schatten des Holocaust legt sich langsam über den Horizont der Kinder Hugo und Magda.
Aus der Begründung der Jury
Stolpersteine sollen nicht nur zum Innehalten Anlass sein. Sie sollen Interesse wecken für die Lebensgeschichten verfolgter Juden. Das Film-Team aus dem WBG-Seminarfach ist einer Spur gefolgt, hat dabei Bedrängnis und Verfolgung fiktional in Szene gesetzt und das Motiv das Bahntransports aufgegriffen, als könne man hier dokumentarisch arbeiten. Die Fotos zeigen ihre Methode, zu der auch das Unterlegen von Klezmer-Musik gehört. Leider können wir euch den Film aus urheberrechtlichen Gründen nicht ins Netz stellen. Du kannst das Skript zu dem Film aber vollständig als pdf lesen: DOWNLOAD-LINK